Ein Beitrag von Ulrike Günther
Fotos: Maksim Dzhym
Tanzende Menschen auf der Berliner Mauer, alliierte Konfrontation am Checkpoint Charlie, Antikriegsproteste im Juli 1914: Was ist geschehen? Was hätte geschehen können? DaZ-Lernende haben sich Mitte Mai im Historischen Museum auf Entdeckungsreise begeben und 150 Jahre deutscher Geschichte erkundet.
14 entscheidende Wendepunkte beleuchtet die Sonderausstellung „Roads not Taken – Es hätte auch anders kommen können“ schlaglichtartig, stellt Fakten dar, fragt nach möglichen Alternativen. Im futuristischen Pei-Bau mit Glasfassade präsentiert sie auf großformatigen Stellwänden mit Bildern und Erklärtexten in Deutsch, Englisch und leichter Sprache herausragende Ereignisse. Die IK-Schüler:innen vom Bildungszentrum Schöneberg beschäftigten sich am 16. Mai mit Themen, die auch im Orientierungskurs wichtig sind. Angefangen von der friedlichen Revolution 1989 setzt die Schau, chronologisch bis zur Märzrevolution 1848 rückwärts schreitend, der schwarz-weißen Dokumentation der Tatsachen die bunten „Möglichkeitsräume“ gegenüber. Vom Historiker Prof. Dan Diner konzipiert, betont sie auf diese Art laut kuratorischem Team die „Offenheit von Geschichte“.
Lebendiger Dialog bei Sonderführung für IKs
Die Geschichtswissenschaftlerin Lisa trat auf dem Sonder-Rundgang für IKs mit den DaZ-Lerner:innen in lebendigen Dialog. Deutlich, langsam erklärte sie, was auf den Schautafeln zu sehen ist, beschrieb ungewöhnliche Details und Hintergründe. Mit Fragen zum Geschehen, zu Vokabeln, mit Kommentaren trugen die Teilnehmer:innen zum Gespräch bei. Auf dem Foto des 40. Jubiläums der DDR-Gründung am 07. Oktober 1989 erkennen sie neben Staatschef Honecker hochrangige Ehrengäste: Reformator Gorbatschow, Jaruzelski, Ceauşescu. Gleich daneben die Bilder der Massendemonstrationen für Meinungsfreiheit und Mitbestimmung zwei Tage später. „Das ist in Leipzig“, sagt Maksim, der die breiten Prachtstraßen im Zentrum besichtigt hat. Zitate von NVA-Soldaten, die in den Kasernen mobilgemacht wurden und um ihre an den Aktionen beteiligten Freund/innen fürchteten, weisen auf das verborgene Risiko hin. Auch die Stellwand mit dem Symbolbild der am Brandenburger Tor nach der Grenzöffnung tanzenden Menschen veranschaulicht die Gefahr: In einer zweiten, orthogonal versetzten Perspektive zeigt sie die einige Monate vorher zum Tian´anmen-Platz in Peking rollenden chinesischen Panzer, wo sie ein Massaker unter den protestierenden Student:innen anrichteten.
Lehrreiche Einblicke: Mauerbau, Kalter Krieg, NS-Zeit
„Was fällt euch zum Datum 1961 ein?“, ermuntert Lisa die Migrant:innen, eigene Assoziationen einzubringen. „Jurij Gagarin ist als erster Mensch in den Weltraum geflogen“, meldet sich Alina zu Wort. Mit dem Mauerbau, der die deutsche Teilung besiegelte, fand die zweite Berlin-Krise zwischen „freiem Westen“ und „Ostblock“ einen Abschluss. Wie gespannt die politische Situation tatsächlich war, macht ein Foto vom Checkpoint Charlie sichtbar. Lisa berichtet, wie sich im Oktober 1961 amerikanische und sowjetische Panzer 16 Stunden bedrohlich gegenüberstanden und eine militärische Eskalation befürchten ließen. Die Bilder von Rosinenbombern beeindrucken die Deutsch-Schüler:innen. Die Museumsführerin schildert, wie die westlichen Alliierten über eine Luftbrücke bei der Berlin-Blockade 1948/ 49 den Westteil der Stadt mit Lebensmitteln versorgten. Vom Kalten Krieg, dem Wettstreit der Supermächte in Rüstung und Technik, ohne in direkte Kämpfe einzutreten, haben die IKler:innen schon gehört. „Die USA und die Sowjetunion haben in anderen Ländern Kriege geführt“, wirft Abed ein, z.B. in Korea, Afghanistan oder Angola.
Vor dem Foto eines zertrümmerten Zimmers raten die DaZ-Lernenden, was abgebildet ist: ein Attentat. Lisa erzählt vom 20. Juli 1944, dem missglückten Bombenanschlag des Grafen von Stauffenberg und seiner Mitstreiter auf Adolf Hitler. Sie erläutert die Ziele des militärischen Widerstandes, welche Folgen ein günstigerer Verlauf gehabt hätte. Das Gemälde „Die Gerippe spielen zum Tanz“, schräg gegenüber, legt sarkastisch und schonungslos die brutale Realität der menschenverachtenden Vernichtungspolitik des NS-Staates offen. „Das ist für mich auch eine Art Widerstand“, betont Lisa. Der jüdische Künstler Felix Nussbaum malte das Werk 1944 in seinem belgischen Versteck, bevor er und seine Frau denunziert, nach Auschwitz deportiert und umgebracht wurden. Was wäre passiert, wenn man 1936, als die Nazis in die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes einmarschierten, die Einhaltung des Versailler Vertrages durchgesetzt hätte? Wenn die sozialdemokratischen Anti-Kriegs-Proteste vor dem Ersten Weltkrieg mehr Gehör gefunden hätten? Die lehrreiche Schau gibt Denkanstöße, wirft Fragen auf. Für die Schüler:innen eröffnete sie Einblicke in die jüngere Geschichte und bietet dadurch auch eine Grundlage für das Verständnis der Gegenwart.